Die geschlechtsspezifische Lohnlücke, auch bekannt als Gender Pay Gap, ist ein Phänomen, das in nahezu allen Ländern und Branchen besteht. In Deutschland stagniert der unbereinigte Gender Pay Gap seit mehreren Jahren bei rund 18 Prozent. Selbst nach Bereinigung struktureller Faktoren wie Beschäftigungsumfang, Qualifikation oder Erwerbsbiografie verbleibt ein Verdienstunterschied von 6 Prozent. Dieser unerklärte Rest wird zunehmend mit psychosozialen Mechanismen wie der Stigmatisierung von Frauen in Verbindung gebracht.
In meiner Hausarbeit im Fach Sozialpsychologie untersuchte ich die Fragestellung, inwiefern sich die Stigmatisierung von Frauen auf die Entstehung und Verfestigung des Gender Pay Gaps in Deutschland auswirkt. Die Arbeit basiert auf der Theorie der sozialen Stigmatisierung nach Erving Goffman und projiziert das Konzept auf den Gender Pay Gap anhand konkreter Fallbeispiele, die durch fundierte Studien belegt sind.
In diesem Blog-Beitrag erfahren Sie, welche Erkenntnisse ich in dieser Arbeit gewonnen habe.
Die Theorie der sozialen Stigmatisierung nach Erving Goffman
Erving Goffman beschreibt ein Stigma als ein Merkmal, das eine Person in den Augen anderer diskreditiert. Es handelt sich nicht um eine objektive Eigenschaft, sondern um ein sozial konstruiertes Attribut, das in einem spezifischen gesellschaftlichen Kontext abwertend wirkt. Goffman unterscheidet drei Stigmatypen:
- Abscheulichkeiten des Körpers (z. B. körperliche Beeinträchtigungen),
- Charakterliche Fehler (z. B. Suchtverhalten),
- Phylogenetische Stigmata (z. B. Geschlecht, Herkunft, Religion).
Das Geschlecht „Frau“ fällt unter die dritte Kategorie. Die Stigmatisierung resultiert aus der Diskrepanz zwischen der virtualen und aktualen Identität: Die virtuale Identität umfasst gesellschaftliche Erwartungen an eine bestimmte Gruppe (z. B. Frauen als emotional, fürsorglich), während die aktuale Identität die tatsächlichen Eigenschaften einer Person beschreibt. Wird diese Diskrepanz in sozialen Interaktionen sichtbar, kommt es zur Stigmatisierung.
Auswirkungen von Stigmatisierung
Stigmatisierung kann sich auf drei Ebenen auswirken:
- Antizipiertes Stigma: Die betroffene Person erwartet Ablehnung und entwickelt Vermeidungsstrategien.
- Erlebtes Stigma: Konkrete Erfahrungen der Ausgrenzung und Diskriminierung.
- Internalisiertes Stigma: Die betroffene Person übernimmt die negativen Zuschreibungen in ihr Selbstkonzept.
Goffman unterscheidet zudem zwischen diskreditierten (sichtbar stigmatisierten) und diskreditierbaren (unsichtbar stigmatisierten) Personen. Frauen gehören zur Gruppe der Diskreditierten, da ihr Geschlecht als offensichtliches Merkmal nicht verborgen werden kann.
Der Gender Pay Gap
Der Gender Pay Gap beschreibt den durchschnittlichen Stundenlohnunterschied zwischen Männern und Frauen. Es wird zwischen dem unbereinigten (alle Faktoren inkludiert) und dem bereinigten Gender Pay Gap (nach Abzug struktureller Unterschiede) unterschieden. Ursachen sind u.a.:
- Horizontale Segregation: Geschlechterverteilung über Berufsfelder hinweg.
- Vertikale Segregation: Geschlechterverteilung innerhalb von Hierarchieebenen.
- Ungleiche Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit.
- Mangelnde Transparenz bei der Entgeltfindung.
Der Gender Pay Gap wird somit als Indikator für strukturelle Ungleichheit betrachtet.
Fallbeispiel 1: Die gläserne Decke in Führungsetagen
Frauen stoßen trotz hoher Qualifikation häufig an eine unsichtbare Barriere auf dem Weg in Führungspositionen – die sogenannte gläserne Decke. Obwohl Frauen gut ausgebildet sind, fehlen ihnen oft die Zugänge zu informellen Netzwerken, in denen Karrieren geschmiedet werden. Diese Netzwerke sind häufig männlich dominiert und reproduzieren sich selbst. Frauen bleiben außen vor, nicht aufgrund von Leistung, sondern wegen ihres Geschlechts.
Die Folge: Frauen werden von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen, ihre Leistungen weniger anerkannt, und sie verdienen deutlich weniger. Laut einer Studie von Statista verdienen männliche Hauptabteilungsleiter im Schnitt rund 1500 Euro mehr im Monat als ihre weiblichen Kolleginnen auf derselben Position.
Zudem geraten viele Frauen in eine psychologische Zwickmühle – den sogenannten Double-Bind-Effekt. Dieser beschreibt eine paradoxe Situation, in der widersprüchliche gesellschaftliche Erwartungen herrschen: Zeigt sich eine Frau durchsetzungsstark und zielstrebig – Eigenschaften, die für Führungskräfte gefordert werden – wird sie häufig als unweiblich oder unsympathisch wahrgenommen. Verhält sie sich hingegen empathisch und zurückhaltend, gilt sie als nicht führungstauglich. Egal wie sie sich verhält: sie kann gesellschaftlich nur verlieren. Dieses Dilemma kann zur Frustration und Selbstzweifeln führen und die gläserne Decke weiter verfestigen.
Frauen, die dieses Stigma antizipieren, fühlen sich verunsichert oder übernehmen männlich geprägte Verhaltensweisen. Im Falle einer Internalisierung stellen Frauen ihre Eignung infrage, was zu geringerer Eigeninitiative führen kann.
Fallbeispiel 2: Diskriminierung bei der Ausbildungsplatzvergabe
Noch bevor die Karriere beginnt, machen viele junge Frauen bereits die Erfahrung von Benachteiligung bei der Vergabe von Ausbildungsplätzen. Eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin und des DIW zeigt, dass Bewerberinnen mit identischen Noten und Qualifikationen schlechtere Chancen haben als männliche Bewerber.
Während Männer, die sich in Frauenberufen bewerben, keine Nachteile erfahren, sinken die Erfolgschancen von Frauen, die sich in klassischen Männerberufen bewerben, drastisch allein wegen ihres Geschlechts. Die wirtschaftlichen Folgen sind gravierend: In technischen Berufen liegt der durchschnittliche Stundenlohn bei über 27 Euro, während in pflegerischen und medizinischen Berufen, in denen mehrheitlich Frauen arbeiten, oft nicht einmal 16 Euro erreicht werden.
Die Antizipation dieses Stigmas kann dazu führen, dass sich Frauen gar nicht erst auf klassische Männerberufe bewerben. Auch eine schlechtere Performance im Bewerbungsgespräch ist möglich. Bei Internalisierung fühlen sich Frauen selbst weniger geeignet. Mädchen und Frauen wählen deshalb häufiger Berufe mit niedrigerem Lohnniveau.
Internalisiertes Stigma und gesellschaftliche Legitimation der Ungleichheit
Besonders brisant ist der Befund der LINOS-Studie: Viele Menschen – darunter auch Frauen – empfinden es als gerecht, dass Frauen weniger verdienen als Männer. Dieses internalisierte Stigma zeigt, wie tief gesellschaftliche Vorurteile verankert sind. Es braucht also nicht nur Gesetze und Programme für Lohngleichheit, sondern auch einen grundlegenden Mentalitätswandel.
Stigmabewältigungsstrategien
Goffman und andere Sozialpsycholog*innen wie Major & Eccleston benennen Strategien, die häufig von Betroffenen zur Stigmaabwehr angewendet werden:
- Attraktivität steigern: Anpassung an dominante Gruppen.
- Vermeidung belastender Situationen.
- Rückzug persönlicher Ambitionen.
- Suche nach Unterstützung innerhalb der Eigengruppe.
- Externale Attribution: Schuld wird auf gesellschaftliche Vorurteile verschoben.
Letztere Strategien gelten als besonders effektiv, um psychologische Selbstschutzmechanismen zu aktivieren und den Auswirkungen internalisierter Stigmata entgegenzuwirken.
Der Gender Pay Gap ist mehr als ein statistisches Problem. Er ist Ausdruck eines kulturellen und psychologischen Systems, in dem Frauen als weniger kompetent und weniger leistungswürdig wahrgenommen werden – oft auch von sich selbst.
Stigmatisierung ist ein zentraler, psychologisch wirksamer Mechanismus in der Entstehung des Gender Pay Gaps. Sie wirkt auf verschiedenen Ebenen – strukturell, interaktional und intrapsychisch – und verhindert so systematisch eine gleichwertige Entlohnung von Frauen. Die zwei Fallbeispiele der gläsernen Decke und der Ausbildungsplatzvergabe liefern empirische Belege für diese Wirkmechanismen. Wer den Gender Pay Gap wirklich verstehen und bekämpfen will, muss sich mit den tief verankerten gesellschaftlichen Stigmata auseinandersetzen. Nur so lassen sich langfristig Gleichheit und Gerechtigkeit im Arbeitsleben herstellen.